Dienstag, März 19, 2024
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Die Attraktion des einfachen Blickwinkels

Simple Antworten engen unser Leben ein. Doch es gibt einen Weg zurück zur besseren Entscheidungsgrundlage und Mut zur Vielfalt

Ich habe in den letzten Jahren ein kleines Spiel für mich entwickelt. Nur so für mich. Und es geht folgendermaßen: Ich gehe über die Straße und schaue einem Menschen nach. Einfach spontan – ohne nachzudenken. Ich schaue mir an wie er gekleidet ist, wie er geht und wie er so auf mich wirkt. Ich mache mir so meine Gedanken über die Person: Wo kommt er her, wo will er hin, was denkt er wohl gerade? Hat er Probleme? Ist er glücklich? Lebt er in einer Beziehung und wie ist diese wohl?

Das macht mir Spaß, weil ich frei meinen eigenen Gedanken nachgehen kann. Ich reflektiere weder den Wahrheitsgehalt noch überprüfe ich meine Gedanken. Doch dem Menschen wird diese Vorgehensweise nicht gerecht.

Ich bilde mir ein Vor-Urteil – ein künstliches Szenario in meiner Gedankenwelt.

Ohne jemals mit dem Menschen persönlich in Kontakt  getreten zu sein und die Fragen: „Sind Sie glücklich? Wo wollen Sie hin? Haben Sie Probleme?“ an ihn zu richten und seine Antworten darauf zu hören.

Was ich mit dem Menschen auf der Straße gemacht habe, können wir auch auf unser aktuelles Weltgeschehens übertragen. Wir folgen den Ereignissen der Welt – jeder für sich allein. Wir besorgen uns unsere Informationen oft nur aus einer Quelle: den Medien. Es ist hier egal, ob gedruckten oder gesprochenen, online oder offline. Der Punkt ist, dass wir uns ausschließlich über diesen einen Zugang über das Weltgeschehen informieren.

Mit einem klaren Vorteil:

Durch dieses Vorgehen verbringen wir nur so viel Zeit wie notwendig mit dem Thema. Wir bilden uns unsere Meinung und finden Antworten ohne eine grundlegende Auseinandersetzung. Und dabei haben wir sogar noch Zeit für andere Aufgaben. Wir sind eindeutig auf der Gewinnerseite, oder? Doch wenn wir die Komplexität der Welt durchdringen und verstehen wollen, ist diese Vorgehensweise suboptimal oder sogar kontraproduktiv,

Ein einfacher Blickwinkel wirkt sehr anziehend auf uns. Wir erfreuen uns an dem euphorischen Gefühl, in unserer Sicht auf die Welt bestätigt zu sein. Wir glauben leichtfertig wieder etwas wirklich verstanden oder begriffen zu haben. Wir meinen im Recht zu sein das sagen zu können was wir sagen wollen.

Es ist auch verlockend, sich von einer einfachen Idee verführen zu lassen: Diese Idee erklärt in einem Moment auf magische Weise sehr viele andere Dinge oder sie könnte als fantastische Allzweckwaffe  genutzt werden – wenn denn nur alle das auch so sehen würden wie wir.

Überhaupt, ist es nicht mit vielen Problemen auf der Welt so? Diese komplexen Situationen, von denen immer gesprochen werden, haben eigentlich eine einfache Ursache und können daher auch ganz leicht gelöst werden – mit einer simplen Allzweckwaffe. Oder nicht?

Spüren Sie die Versuchung? Die Magie des Einfachen? Das ist es, was wir immer und mit all unseren Sinnen ablehnen sollten. 

Doch bei allem was wir über die Welt denken, gibt es für mich eine kleine Herausforderung zu beachten: Unsere subjektive Sicht auf die Welt ist nicht ganz korrekt. Wenn wir allein auf uns gestellt sind, deuten wir die Welt „in unserem Sinne“ subjektiviert falsch.

Zwar hat Pippi Langstrumpf in einem Lied gesungen „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt“ und viele Zuschauer haben sich an dem Bild erfreut. Wie leicht es doch sein könnte! Für uns ist diese vereinfachte Herangehensweise in der komplexen Welt so anziehend, weil sie zeitsparend, energieschonend und selbstbestätigend ist. Das ist in einem Film auch ganz lustig. Nur für unsere Wirklichkeit kann das keine Maxime sein, denn unsere reale Welt ist zu komplex und zu vielschichtig für diese selbstbezogene Haltung. Dieses vereinfachte Bild ist als Entscheidungsgrundlage mit unvollständigen oder fehlenden Informationen gespickt. Und das kann für uns nicht vorhersehbare, überraschende und oft negative Folgen haben. Es könnte sich langsam und unbemerkt eine willkürliche Ideologie durchsetzen, die unsere persönliche Freiheit und Meinungsvielfalt unterdrückt.

Wofür sind Sie oder sind Sie nur dagegen?

Wenn wir uns mit einem einfachen Blickwinkel ausschließlich nur für oder gegen ein Thema stellen, haben wir keine Chance, die anderen relevanten Informationen zu erhalten, die unsere Sichtweise nicht unterstützen. Das ist profan gesagt eine schlechte Vorgehensweise, wenn wir die Realität wirklich begreifen wollen – und diesen Anspruch haben doch alle, behaupten wir zumindest, in den aktuellen Diskussionen und Streitigkeiten.

Natürlich können wir uns mit Menschen umgeben, die uns gefallen, auch bezüglich der ähnlichen Meinungen. In dieser Vorgehensweise liegt aber die Gefahr der selbsterfüllenden Prophezeiung: Wir finden im Außen die Bestätigung für das eigene Denken  – wir machen es uns in unserer Komfortzone (Blase) schön gemütlich und denken nicht mehr nach.

Erfolgreicher ist es die eigenen Lieblingsargumente immer mal wieder auf mögliche Schwachpunkte zu überprüfen oder sie sogar zu hinterfragen. Bleiben wir demütig in Bezug auf unser eigenes Wissen und seien wir neugierig und offen für neue Informationen aus anderen Bereichen.

Mein Vorschlag:

Lassen Sie uns mit Menschen reden, die nicht unserer Meinung sind. Nutzen wir die anderen Ideen als wichtige Ressource, um die Welt besser und umfangreicher zu verstehen. Wenn das nun nach sich ziehen würde, dass wir viel mehr Zeit aufwenden müssten, um uns mit vielen Meinungen auseinanderzusetzen, so what? Wäre es nicht leichter einige wenige Meinungen zu haben, die zutreffend sind, als viele unwahre Meinungen?

Versuchen wir es doch mal folgendermaßen:

Wir lesen oder hören etwas zu einem Thema und aufgrund dieser Informationen bilden wir uns eine eigene Meinung. Dann lesen wir ein paar persönliche Kommentare oder weitere Artikel zum Thema und anschließend besorgen wir uns ein Buch zur Thematik. Mit diesem Input reden wir mit unterschiedlichen Menschen über deren Wahrnehmungen und Sichtweisen zum Thema.

Dadurch werden wir das Thema oder ihre Meinung für uns selbst besser durchdringen, wir bilden uns unsere ganz eigene Meinung ohne uns einer möglichen oder unbewussten Manipulation auszuliefern und können uns entspannt mit unserem Standpunkt positionieren. Die anderen müssen nicht unserer Meinung sein. Halten wir diese Meinungsvielfalt aus! Es passiert nichts Schlimmes.

Die magische Lösung aufgrund eines einfachen Blickwinkels und die Ausgrenzung anderer Meinungen grenzt unsere persönliche Lebensqualität ein – weil Vielschichtigkeit verhindert wird und aus der gelebten Monotonie und Homogenität der Sichtweise keine neuen Impulse entstehen können.

Ich habe mich schon oft geirrt in Bezug auf die Welt. Oft half mir der Kontakt mit der Wirklichkeit, meine falschen Gedanken zu erkennen. Jedoch passiert es viel öfter durch Gespräche mit anderen, die andere Ideen haben und ich diese zu verstehen versuche. Wenn die andere Sichtweise für mich nicht passte, ließ ich sie neben meiner Sichtweise stehen ohne sie zu verurteilen. Ich respektierte die andere Sicht auf die Welt.

Und dann habe ich es doch getan:

Letztens sprach ich eine Frau an, die ich auf der Straße beobachtete. Nun wollte ich es doch mal wissen. Ich fragte sie: „Wohin gehen Sie gerade?“

Sie blieb stehen, schaute mich verdutzt an, zögerte einen Augenblick und antwortete dann etwas zaghaft: „Mein Mann ist mit einem Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert worden und ich habe ihm eine Tasche gepackt für die nächsten Tage. Die bringe ich ihm jetzt vorbei.“

Mich rührte ihre Aussage und und ich begleitete sie spontan bis zur U-Bahn. Ich nahm die gepackte Tasche und trug sie. So kamen wir in ein Gespräch über das Leben, über Krankheiten, Familie, Verlust und Liebe. Es war ein kurzer Moment der Verbindung zwischen zwei fremden Menschen, der mich durch den Rest des Tages begleitete. Was für ein Geschenk.

Foto Thomas Wehrs: © Georgios Pavlidis

Autor Thomas Wehrs

Aussagen des Autors und des Interviewpartners geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion und des Verlags wieder

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